V. Schmid Bagdasarjanz: Casimir von Arx (1852 – 1931)

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Title
Der Zukunft eine Bahn zu brechen. Casimir von Arx (1852-1931). Oltner Titan, Solothurner Ständerat und erster Verwaltungsratspräsident der SBB


Author(s)
Schmid Bagdasarjanz, Verena
Published
Zürich 2021: Chronos Verlag
Extent
704 Seiten
by
Urs Bloch

Als schier unmöglich würden wohl auch viele Historikerinnen und Historiker die Aufgabe bezeichnen, das Leben und Werk von Casimir von Arx zwischen zwei Buchdeckel zu fassen. Zu zahlreich waren die Tätigkeiten, denen der Oltner Freisinnige um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nachging, zu umfangreich vielleicht auch der Familiennachlass, der im Stadtarchiv Olten vorliegt. Die promovierte Historikerin Verena Schmid Bagdasarjanz hat sich der Aufgabe angenommen und ein in jeglicher Hinsicht beeindruckendes Werk vorgelegt.

Der Titel «Der Zukunft eine Bahn zu brechen» ist Programm: Die Autorin führt die Lesenden in eine Epoche ein, in der unser Bundesstaat Form annahm und vieles geschaffen wurde, das für die Zukunft der Schweiz prägend war. Konsequent den Weg der zentralen, handelnden Person (Casimir von Arx) beschreibend zeichnet sie die grossen Entwicklungslinien nach und zeigt kenntnisreich und detailliert auf, wie dieser moderne Staat auf den drei Staatsebenen allmählich entstand: Kantonssteuern als Grundlage für die Finanzierung zahlreicher werdender Staatsaufgaben, ein leistungsfähiges, vertrauenswürdiges Bankenwesen, die Schaffung der Nationalbank und die Verstaatlichung der Eisenbahnen als Treiber wirtschaftlicher Entwicklung und als nationale Klammer sowie die Verwirklichung lokaler Infrastrukturprojekte wie der Wasser- und Energieversorgung als Schritte in die Moderne einer Kleinstadt.

Casimir von Arx war ein Titan, wie der Untertitel nahelegt, einer der durch aussergewöhnliche Leistungen auffiel. Dabei zielt die Autorin auf das riesige Werk des Oltner Kaufmanns und seinen eindrücklichen Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen zum erfolgreichen Geschäftsmann und einflussreichen Politiker auf nationaler Ebene. Als Politiker engagierte sich Casimir von Arx im Kantonsrat und deckte dabei den Solothurner Bankenskandal auf, war 35 Jahre lang Ständerat und trug dazu bei, als ehrenamtlich tätiger Oltner Stadtammann wichtige Infrastrukturprojekte der Stadt anzustossen. Casimir von Arx machte sich insbesondere in Finanzfragen einen Namen. So war er massgeblich daran beteiligt, als aus dem Scherbenhaufen der Solothurner Finanzinstitute die Kantonalbank geschaffen wurde und brachte sein Wissen als Verwaltungsrat in der Eidgenössischen Bank ein. In bemerkenswerter Weise und Hartnäckigkeit setzte sich von Arx im Ständerat sowohl für die Zentralisierung des Geldsystems und damit für die Schaffung der Nationalbank wie auch für die Verstaatlichung der privaten Eisenbahngesellschaften und daraus hervorgehend für die Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen ein. Den SBB stand er in der Folge als erster Verwaltungsratspräsident vor und blieb ihnen viele Jahre treu. Es sollte die Tätigkeit sein, die den Sohn der Eisenbahnstadt zeit seines Lebens am meisten beschäftigte, erfüllte und prägte.

Casimir von Arx sah für zentrale Aufgaben einzig den Bundesstaat als geeignete, verantwortliche Körperschaft, denn nur er könne die entsprechenden Leistungen bar jeder Spekulation und jeden Gewinndenkens im Sinne der Allgemeinheit erbringen. Darin spiegelte sich auch sein Selbstbild als Freisinniger. Dieser soll unbefangen an jede politische Frage herangehen, um sie vom Standpunkt des öffentlichen Wohls zu beurteilen. Casimir von Arx gehörte zu einer Männergeneration, die von einem ungebrochenen Glauben an die Zukunft beseelt war, an den technischen Fortschritt und die Gestaltbarkeit des Landes, wofür der Einzelne im Dienste eines höheren Ziels auch ab und zu Opfer bringen müsse. Grundsätzlich sprach Casimir von Arx dem freien Unternehmertum das Wort, denn nur dieses bringe den wirtschaftlichen Erfolg, müsse aber auch die Anliegen der Schwachen berücksichtigen. Sozialen Forderungen gegenüber war er durchaus aufgeschlossen, solange sie finanzierbar waren.

Eine Person wie Casimir von Arx, der an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lebte, wie ihn Verena Schmid Bagdasarjanz in vielen Facetten beschreibt und ihn dabei klug in seinem jeweiligen Umfeld verortet, wäre heute nicht mehr möglich. Der Übergang der Schweiz in die Moderne war eine Zeit mit zahlreichen Opportunitäten für Menschen oder vor allem für Männer, die gestalten wollten. Vieles war im Entstehen begriffen, ausgehend vom politischen System, über wirtschaftliche Entwicklungen und Infrastrukturvorhaben bis hin zur Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Fragen. Casimir von Arx hatte das erkannt, und er wollte die Entwicklungen mitprägen, im Kleinen wie im Grossen.

Nicht nur im eigentlichen Buchkapitel zum Freisinn, sondern im ganzen Werk finden sich Bezüge zu politischen Themen. In der Person von Casimir von Arx zeichnet die Autorin einen Freisinnigen, der sich zwar gegen die Sozialdemokratie und den Landesstreik wehrt, dem aber die Angestellten und Arbeiter mit ihren Bedürfnissen am Herzen liegen, der sich für die Verstaatlichung und für gewisse Monopole einsetzt, auch weil er erlebt hat, wie beispielsweise der Solothurner Bankenwildwuchs zu Problemen führte. Dabei wird deutlich, wie weit der heutige Freisinn von der Ausformung jener Jahre und Jahrzehnte entfernt ist. Damals war der Freisinn eine Sammelbewegung, der einzig Vertreter des Rom-hörigen, ultramontanen Konservatismus nicht angehörten. Casimir von Arx war freisinnig aus Vernunftgründen, für ihn gab es nur eine mögliche Partei. Welche Positionen er in diesem noch breit gefächerten, noch durch und durch staatstragenden Freisinn einnahm, zeigt die Autorin sehr eindrücklich und stellt fundierte Bezüge sowohl auf kantonaler wie auch auf nationaler Ebene dar.

Gerne hätte man erfahren, inwieweit die Biografie Casimir von Arx’ innerhalb des Freisinns singulär oder doch eher prototypisch war. Ebenfalls von Interesse wäre, ob und inwiefern sich die Entwicklung in Olten und im Kanton Solothurn von derjenigen in anderen Regionen der Schweiz unterschied. Doch solche Einordnungen wären zu umfangreich und hätten deshalb wohl den Rahmen des ohnehin umfangreichen Werkes gesprengt. Es ist eine Stärke des Buches, dass die Autorin den Fokus stets und konsequent auf der Biografie von Casimir von Arx gerichtet hat und diese detailliert, eindringlich und in einer unterhaltsamen Wissenschaftsprosa zeichnet. Durch die Augen von Casimir von Arx blicken wir auf die damaligen Jahrzehnte und erhalten einen sehr plastischen Eindruck sowohl der öffentlichen Vorgänge wie auch des privaten Lebens. Die Autorin hat sich so intensiv mit diesem Menschen beschäftigt, dass man den Eindruck gewinnt, sie habe den Protagonisten gekannt. Es ist eine Freude, dank dem Buch in die damalige Zeit einzutauchen, Personen kennenzulernen und sich die Vorgänge in der Schweiz zu vergegenwärtigen. Der Aufbau des Buches gestattet es den Lesenden, sowohl chronologisch vorzugehen als auch einzelne Kapitel des öffentlichen Lebens je nach Interesse gesondert zu lesen. Jedes Kapitel beginnt mit einem Resumée, ehe die Autorin das jeweilige Thema detailliert ausbreitet.

Die methodische Herangehensweise der Autorin ist konsequent auf die schriftlichen Quellen ausgerichtet. Es ist ihr grosses Verdienst, den umfangreichen handschriftlichen Quellenschatz des Familiennachlasses im Stadtarchiv Olten gehoben und bearbeitet zu haben. Die zahlreichen und umfangreich wiedergegebenen Zitate stehen im Buch einerseits für sich selbst, sind andererseits aber auch gekonnt in den Lauftext integriert. Die Autorin hat mit dem Werk wichtige historische Grundlagenforschung betrieben.

Abgesehen von der umfangreichen Korrespondenz, von Redemanuskripten, Notizzetteln, mit Randnotizen versehenen Gesetzesvorlagen und Protokollen stellen die von Casimir von Arx verfassten Memoiren ein einzigartige Quelle dar. Die Memoiren liegen in Entwürfen, in kleinformatigen Notizheften und in einer von ihm verfassten Reinschrift vor. Dies hat es der Autorin ermöglicht, die wechselnde Befindlichkeit des Protagonisten zu ergründen und der Frage nachzugehen, welche Themen seines langen Lebens ihn besonders beschäftigten. Die 140 Seiten umfassende, kritisch bearbeitete Edition der Memoiren kann auf der Website des Chronos-Verlags heruntergeladen werden. In seinen handschriftlichen Aufzeichnungen gab von Arx seinen Ämtern das Hauptaugenmerk und öffnete die Tür in sein privates Leben bloss einen Spaltbreit. Diese Lücke – und das macht das Buch so wertvoll – schliesst die Autorin in der bewussten Absicht, den Protagonisten nicht ausschliesslich als strahlende, erfolgreiche öffentliche Person erscheinen zu lassen. Sie gewährt uns, soweit möglich, gleichermassen einen Blick auf die privaten Verhältnisse von vier Generationen von Arx, die alle einen Vertreter mit Namen Casimir in ihren Reihen hatten. Schlüssel zu dieser Welt sind Briefe, Glückwunschkarten, Redemanuskripte und Fotos aus dem Familiennachlass, aber auch Gerichtsakten. Aufgrund dieser Quellen ermöglicht uns die Autorin Einblick in damalige Verhaltensweisen, Umgangsformen, Sprech- und Schreibweisen, macht aber auch erahnbar, welche Wertschätzung von unterschiedlichster Seite von Arx erfuhr, und wie man ihm begegnete.

Die Beschreibungen des privaten Lebens zu Beginn und am Ende des Buches bilden die Klammer der Biografie. Sie erlauben es auch, die Frauen als handelnde Subjekte der Familie von Arx darzustellen. Es sind insbesondere die Schwestern, Casimirs Frau Bertha und die Töchter, deren Leben im Buch beschrieben ist. Wir lernen aber auch das Schicksal des Sohnes Casimir kennen und die Tragik einer Vater-Sohn-Beziehung. Die dem Privaten gewidmeten Kapitel geben dem Leben dieses Titanen und Patriarchen eine zutiefst und wohltuend menschlich Dimension. Sie zeigen, dass von Arx, der sich auf dem öffentlichen Parkett sicher bewegte, im privaten Umfeld eine auch nachdenkliche, sensible und fürsorgliche Seite hatte.

Zitierweise:
Bloch, Urs: Rezension zu: Schmid Bagdasarjanz, Verena: Der Zukunft eine Bahn zu brechen. Casimir von Arx (1852-1931). Oltner Titan, Solothurner Ständerat und erster Verwaltungsratspräsident der SBB, Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Jahrbuch für Solothurnische Geschichte 95 (2022), S. 283–287.

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Jahrbuch für Solothurnische Geschichte 95 (2022), S. 283–287.

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